Die rote Pille

“Schluckst du die rote Pille, kann ich dir nicht mehr anbieten als die Wahrheit”, sagte einst Morpheus in der Matrix zu Neo, dem Auserwählten. Ein paar Leute müssen in den letzten Tagen ebenfalls die rote Pille geschluckt haben, weil die Suche nach der Wahrheit immer größere Ausmaße annimmt. Es ist faszinierend, wie schnell die Berichterstattung zu Edward Snowden sich gewandelt hat. Erst sah es so aus, als ob der Druck, den die amerikanische Administration auf ihre Bündnispartner ausübt, seine Wirkung erzielt und Whistleblower Snowdens Schicksal weiterhin im Mittelpunkt steht. Doch jetzt hat sich das Bild gewandelt.

Die Internetgemeinde macht sich stark, stellt Fragen, berichtet über Hintergründe und prägt Meinungsbilder. Sogar auf Facebook, wo man annehmen sollte, dass die Nutzer unbedarft mit Persönlichkeitsrechten umgehen, regt sich Widerstand, wie dieses Bild deutlich macht.

Was geht da vor sich?
Die emeritierte Harvard-Professorin Shoshana Zuboff sagt in einem Artikel im Schweizer Tagesanzeiger, Edward Snowden sei ein Vorbild für uns alle. Umfassende Überwachung mache die Welt nicht sicherer. Weiter führt sie aus, dass Respekt für Menschenrechte und Freiheit eine faszinierendere Zukunftsvision sei als Repression, Restriktion und Überwachung. Und sie glaubt, “dass wir in den kommenden Dezennien Gesetze und Verhaltensweisen entwickeln, die diese Vision für den Globus retten. Wir sind in der Ära der psychologischen Selbstbestimmung, und die beiden [Assange und Snowden] stehen – aus welchen Motiven auch immer – vor der Weltöffentlichkeit dafür ein, während die Wirtschaft in den Dreissigerjahren verharrt. Die Whistleblower haben die Notwendigkeit von Transparenz und des Schutzes des Individuums ans Licht gebracht. Sie sind die Reibung im Getriebe, wie wirs auch sein sollten.“

Wie wir es auch sein sollten. Na bitte. Geht doch.
Und was macht die deutsche Politik? Snowdens Asylantrag in Deutschland wurde abgelehnt. Na sowas, wer hätte das geahnt? Bei gewöhnlichen Kriminellen und Wirtschaftsflüchtlingen dauert so ein Verfahren mitunter Jahre und wird bis in die höchsten Gerichtsinstanzen diskutiert. Bei Edward Snowden ist das eine Entscheidung innerhalb eines Tages. Wofür man durchaus Verständnis haben kann. Nicht im Sinne von akzeptieren, sondern verstehen, weshalb die Bundesregierung so handelt. Schließlich reden wir hier über die USA, die Freunde und den Bündnispartner, mit dem Deutschland als ein Mitgliedstaat der EU seit 2003 ein Auslieferungsabkommen hat, das besagt, Verdächtige würden nur dann nicht an die USA ausgeliefert, wenn ihnen dort die Todesstrafe droht. Das lasse ich jetzt mal unkommentiert.

Snowden wird das wissen. Was wir immer noch nicht wissen, ist die Rolle der Bundesregierung bei den Überwachungsmaßnahmen der Schlapphüte aus den USA und Großbritannien. Seit Jahren ist bekannt, dass insbesondere die NSA in Deutschland aktiv ist. Beispiele hierfür gibt es genügend, benannt werden soll hier zunächst nur das Echelon System. Echelon ist ein Spionagenetzwerk der Staaten USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada. Seit den 70er Jahren wurde die Existenz des Systems vermutet, seit 2001 gilt sie als gesichert. 2004 wurde eine Anlage des Systems in Bad Aibling aufgrund der Verwendung zur Wirtschaftsspionage auf Empfehlung des parlamentarischen Untersuchungsausschuss stillgelegt. Der Fall Enercon geisterte schon damals durch alle Fachblätter.

Daneben dürfte den Geheimdiensten in Deutschland auch durch die Sauerlandgruppe bekannt sein, dass die NSA mehr weiß als sie zugibt. Natürlich, das ist ein Geheimdienst und das heißt was er macht ist geheim. Aber: 2007 wurde der BND zu dieser Terrorzelle von der NSA über Mailverkehr zwischen Pakistan und Deutschland informiert. Und wo kamen diese Daten her? Spätestens jetzt sollte dem geneigten Leser klar sein, dass hier Dienste im Spiel sind, die entweder ihren Job nicht machen, wenn es um den Schutz deutscher Interessen geht, oder aber die hier genannten Dienste sind soweit miteinander verstrickt, dass es für den Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung nur noch um Schadensbegrenzung für die anstehende Wahl gehen kann, seitdem Edward Snowden Insiderwissen preisgibt.

Es ist seit dem 11. September 2001 bekannt, dass die Bundesrepublik von islamischen Terroristen als Zufluchtsort verstanden wird. Dieser Umstand war und ist Grundlage für die Errichtung des Überwachungsstaates BRD. Schily und Schäuble haben damit angefangen und Friedrich führt die Politik der Freiheitsbeschränkungen weiter. Schon 2001, unmittelbar nach 9/11 hat in Deutschland eine Rasterfahndung stattgefunden, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beschrieben wurde. Gesucht wurde damals nach männlichen Studenten oder Ex-Studenten islamischen Glaubens zwischen 18 und 40 Jahren, die aus arabischen Ländern stammten. Bei der koordinierten Aktion hatten Einwohnermeldeämter, Universitäten, einige tausend Gesellschaften in strategischen Bereichen wie z.B. der Luftfahrt und der Energieversorgung sowie das Ausländerzentralregister mehr als acht Millionen Datensätze – 5,2 Millionen allein in Nordrhein-Westfalen – an die Polizei weitergeleitet. Nach einer ersten Rasterung wurden 32.000 Datensätze ans BKA übermittelt und dort in die Verbunddatei „Schläfer“ eingestellt. Ein positives Ergebnis dieser Aktion ist nicht bekannt.

Das Bundesverfassungsgericht wertete diese Rasterfahndung als erheblichen Eingriff in das „Datenschutz-Grundrecht“. Denn davon seien auch private, vertrauliche Informationen etwa zur Glaubensüberzeugung betroffen. Außerdem lasse sich aus der Vielzahl von Daten womöglich ein vollständiges Persönlichkeitsbild zusammenfügen. Eine Rasterfahndung ist weiterhin nicht bereits vor einer „konkreten“, durch Tatsachen begründeten Gefahr zulässig, weil sonst ohne jeglichen Verdacht tief greifende Eingriffe in Grundrechte möglich würden. Außenpolitische Spannungslagen, die von Terroristen für Anschläge genutzt werden könnten, gebe es immer wieder, weshalb die Gefahr eines Anschlags in Deutschland praktisch nie ausgeschlossen sei. Eine Rasterfahndung dagegen setze konkrete Anhaltspunkte für Anschlagsplanungen oder den Aufenthalt von Terroristen in Deutschland voraus.

Aus diesem Blickwinkel heraus wurden dann die gesetzlichen Grundlagen dazu geschaffen, die, wie schon hier berichtet, immer noch anhängig beim Bundesverfassungsgericht sind. Was sollte also dagegen sprechen, dass NSA, BKA, CIA und Verfassungsschutz Schnittstellen eingerichtet haben, die vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. Aber dies ist natürlich nur eine Vermutung, eine Theorie, die sich auf eine Reihe von Indizien stützt. Und Indizien sind keine Grundlage für politische Entscheidungen oder Erklärungen, wohl aber für verfassungswidrige Rasterfahndungen, oder auch: Einschränkungen der Bürgerrechte. Willkommen in der BRD.

Und damit sind wir bei des Pudels Kern. Wenn jedem einzelnen Bundesbürger klar wäre, was z.B. die als Schäuble Katalog bekannte Anti – Terror – Datei im Einzelfall bedeutet, würden sich Widerstände regen. Aber wie in so vielen Fällen muss man sich vermutlich selbst als Betroffenen verstehen, bevor man der Wahrheit auf den Grund gehen möchte, oder wie Morpheus es ausdrückte, in die Tiefen des Fuchsbaus vorzudringen.
Das macht jetzt (hoffentlich) die weltweit vernetzte Menschheit. Keine Regierung kann es sich heute noch leisten, brisante Geheimnisse zu pflegen. Rote Pillen sind im Angebot, und das ist gut so.

1 Gedanke zu „Die rote Pille“

Kommentare sind geschlossen.