2008 hat eine Teilnehmerin eines medizinischen Kongresses in Barcelona darüber berichtet, dass ihr Namensschild mit einem RFID versehen war. Mit dieser „radio-frequency identification“, die man erst bemerken konnte, wenn man sich das Namensschild genauer ansah, generierte der Veranstalter des Kongresses schon damals ein Bewegungsprofil der Teilnehmer und nannte als Grund dafür eine Qualitätsmessung der einzelnen Veranstaltungen in den unterschiedlichen Räumen des Kongresses. Wenn also jemand den Saal verließ, um in einem anderen Saal einem anderen Vortrag zu folgen, konnten die Veranstalter dies über die Sensoren im Gebäude nachvollziehen. Und ebenso den Gang des Teilnehmers zur Toilette…
2017 wurde der kanadische Hersteller Standard Innovations von einem US-Gericht zu einem Schadensersatz in Höhe von 3,75 Millionen US-Dollar verurteilt, wegen Nutzerdaten „die zu Markforschungszwecken und Produktverbesserungen benötigt wurden“. Man stellt sich hier sicherlich die Frage, wie das sein kann, wo doch Privatsphäre in den USA so gut wie nicht existent ist. Nun, Standard Innovations stellt Sexspielzeuge her und im konkreten Fall ging es um vernetzte Dildos. Die Kundinnen, die bis dahin womöglich von sich selbst sagten, sie hätten nichts zu verbergen, dachten sicher anders darüber, als ihnen klar wurde, dass Standard Innovations Aufzeichnungen gesammelt hatte, über Datum und Uhrzeit der Nutzung sowie Vibrationsintensität und -muster, und das alles mit der registrierten E-Mail-Adresse der Kundinnen verknüpft wurde.
Das „IOT, „the internet of things“, Industrie 4.0 oder schlichtweg die Digitalisierung der industriellen Produktion geht viele Wege und bietet scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten. Aber wo bleibt bei dieser Entwicklung der Mensch, der am Ende des Tages all die schönen Dinge, die eine digitale Industrie hervorbringt, kaufen soll? Natürlich kann man sagen, dass eine Persönlichkeitsanalyse des Einzelnen Potentiale bietet, die sich dem Betroffenen niemals erschlossen hätten, wenn er sich den Produzenten gegenüber nicht durch Nutzung digitaler Medien und vernetzter Produkte geöffnet hätte, oder ohne seine Zustimmung oder sein Wissen analysiert wurde. Anders ausgedrückt, es mag ja von Vorteil für den Kunden sein, mit maßgeschneiderten Produkten beworben zu werden, die man ohne Werbung nicht kennen würde. Die Vertreter der Werbeindustrie scheinen hier aber schlauer zu sein, als die Konsumenten, denn sie gehen davon aus, dass der Absatz einbricht, wenn Verbraucher verstehen, wie das System funktioniert (s. auch Die Wahrheit über Einverständniserklärungen).
Und hier kommt die DS-GVO ins Spiel. Im Gegensatz zu China, wo alle Daten dem Staat gehören, und der westlichen Welt, in der Datenverarbeitung durch private US-IT-Monopolisten zunehmend beherrscht wird, und der Handel mit persönlichen Daten durch die Rechtsordnung weit mehr legitimiert ist, als in Europa, steht hier – zumindest nach dem Wortlaut der DS-GVO – der freie Wille des Konsumenten im Vordergrund. D.h., der Verbraucher hat in Europa das Recht zu entscheiden, ob und wie seine persönlichen Daten verarbeitet werden dürfen.
Die ketzerische Frage nunmehr dürfte sein, ob ein Europäer wirklich frei entscheiden kann und das System, wie wir es gewohnt sind, besser ist, als bspw. ein kommunistisches Regime. Ein Bürger Chinas weiß, worauf er sich einlässt, wenn er auf einem Smartphone seine digitale Seele pflegt, denn der Staat entscheidet über einen Scorewert, ob der Bürger aufgrund seiner digitalen Seele ein guter oder ein böser Chinese ist. Im Gegensatz dazu wird einem Verbraucher in der westlichen Welt suggeriert, er könne sich frei entscheiden und Scroring Werte seien etwas, das nur in der kommunistischen Welt existiert. Aber ist das auch so?
Jedes Unternehmen, das Kundenbindungsysteme betreibt, mit dem „guten“ Kunden Privilegien (Bonus) eingeräumt und schlechte Kunden als unwertig klassifiziert werden, verfolgt einen vergleichbaren Gedanken, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Mit dem Unterschied zu China, dass der Kunde das Scoring – System nicht versteht, weil es ihm vorenthalten wird und der Kunde keine Vorstellung davon hat, worauf er sich einlässt, auch wenn eine sog. Einverständniserklärung etwas anderes suggeriert.
Was aber passiert, wenn sich das ändert? Auch dazu gibt es eine kleine Geschichte, die mir neulich jemand aus seinem eigenen Erfahrungshorizont berichtet hat. In einer Zeit, als dieser jemand Single war, wurde er im Rahmen des Kennenlernens einer Dame seines Begehrens von dieser Dame aufgefordert, er könne sie ja googlen. Was er dann auch tat. Das Ergebnis war, das die Dame ihn einen Stalker nannte und sich von ihm abwandte.
Das ist es, was passiert, wenn jemand merkt, dass sein/ihr Verhalten analysiert wird. Das Verhalten ändert sich und Menschen wenden sich von den Analysten ab. Ob der Faktor Mensch bei der Digitalisierung der industriellen Produktion hinreichend berücksichtigt ist, wird sich noch zeigen. Eines ist sicher: Digitale Industrie ist messbar und die Erkenntnisse sich schwieriger geheim zu halten, als bspw. Psychogramme von Verbrauchern. Denn Verbraucher haben ja „nichts zu verbergen“.
Oder vielleicht doch…?