Unglaublich und doch wahr: Es gibt Menschen, die sind noch paranoider als ich. Eine gute alte Freundin von mir, die nebenbei bemerkt aus Datenschutzgründen die Kamera an ihrem Laptop mit einem Post-It abklebt, erzählte mir neulich von einem Dilemma, das sie mit ihrem iPhone 4 hatte.
Ihre grundsätzliche Verweigerung iTunes für die volle Bandbreite des Gerätes zu nutzen, mag neben der nachlassenden Akkuleistung mit ein Grund dafür gewesen sein, dass das gute Stück wegen der fehlenden Upgrades allmählich den Geist aufgegeben hat. Ihr Chef wollte dem Abhilfe leisten und sponserte ein nagelneues iPhone 6s. Und um die Daten von dem alten Gerät auf das neue zu übertragen, hat sie es tatsächlich geschafft, die Apple-Leute zu überreden ihr diesen Gefallen zu tun. Ohne dass sie einen iTunes-Account dafür anlegen musste. Geht auch ohne digitale Seele, könnte man jetzt sagen. Man muss nur hartnäckig sein und sich nicht von der Masse treiben lassen.
Ein paar Tage später bekam ich von ihr unter dem Kommentar *schüttel-mit-dem-kopf* einen Link zu einem Artikel in der Digitalausgabe der Bildzeitung. Das erste, was ich zunächst zu sehen bekam, war eine leere Seite mit der ULR: Warum sehe ich bild.de nicht…
Weitergehende Bemühungen (Google Chrome, Safari o.ä.) machten dann eine Seite mit dem Titel “Lummas Netzkolumne” sichtbar. Ein Herr Nico Lumma, seines Zeichens “New Media Accelerator”, also “Neue Medien Beschleuniger” regt sich in diesem Artikel über eine Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf auf, die der Gesellschaft Fashion ID die Einbindung eines Facebook-Plugins untersagt. Fashion ID gehört zur Unternehmensgruppe Peek & Cloppenburg Düsseldorf, betreibt den Online-Shop des Bekleidungshändlers und Herr Lumma stört sich daran, dass “immer so getan [würde], als ob Facebook, Google, Amazon und andere sonst was mit den Daten machen würden”.
Dabei sei “es ganz einfach, was mit den Daten passiert: Es [würden] Nutzerprofile angereichert, damit man Werbung und Inhalte zielgerichteter aussteuern kann.
Dennoch [würde] immer unterstellt, dass die Daten, die entstehen, wenn ein Nutzer ein Plugin einer Plattform zu Gesicht bekommt, direkt mit Angabe von Adresse, Schuhgröße und sonst welchen Daten an zwielichtige Geschäftsleute verkauft werden.
Das [sei] natürlich Unfug, denn die Daten [seien] das Kapital der Firmen und sie [machten] diese Werbetreibenden zugänglich, indem sie aus den Daten Zielgruppen erstellen, für die Werbung geschaltet werden kann. Der einzelne Nutzer [sei] dann nur Teil einer Zielgruppe und wird über digitale Werbung angesprochen, Hausbesuche finden nicht statt.”
Die Realität sieht aber anders aus und das, was Herr Lumma schreibt, lässt den Eindruck aufkommen, dass Herr Lumma auf einer Insel lebt.
“Nun, wie mag die Insel heißen, ringsherum ist schöner Strand
Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland …”.
Im schönen Lummerland, der Welt, in der die Werbetreibenden sich tummeln, ist es offensichtlich normal, dass man Leuten einen Bären aufbindet, Unwahrheiten auftischt, schlichtweg Wahrheiten ignoriert, verdreht oder mit Euphemismen versieht.
Abgesehen davon, dass Herr Lumma personenbezogene Daten als Kapital von Firmen versteht und dabei völlig übersieht, dass die Betroffenen, über die diese Daten etwas aussagen, Rechte haben, ist seine Argumentationskette schon dahingehend ignorant gegenüber den Betroffenen, indem er verschweigt, dass die Möglichkeit einer Zusammenführung unterschiedlichster Datenquellen sehr wohl mehr über eine Person aussagt, als die Schuhgröße. Und alleine schon die geht nur Betroffene etwas an, wenn sie das so wollen.
Irgendein schlauer Kopf hat Lummerland beschrieben als einen “Modellstaat, in dem Mensch Natur und Technik ein harmonisches Ganzes bilden”. Von Harmonie kann jedoch bei solchen Darstellungen und den dazu gegensätzlichen Technologien, die von der Werbeindustrie verwendet werden, keine Rede sein. Denn Harmonie erfordert gegenseitiges Einvernehmen und Vertrauen. Wenn aber Internetnutzer wüssten, welche technischen Mittel eingesetzt werden, um Informationen “abzugreifen”, hätte die Werbeindustrie einen sehr schweren Stand. Denn die Technologien, sich dagegen zu wehren, sind auch verfügbar und diese würden von viel mehr Nutzern eingesetzt. Dann ginge es diesen Nutzern wie mir und ein “Warum sehe ich bild.de nicht” erschiene.
Es gibt Tools, mit denen Werbung blockiert werden kann und auch solche, wie z.B. Ghostery, mit denen interaktive Kommunikation oder Trackingsysteme zur Nutzeranalyse (von der Nutzer in der Regel überhaupt nichts mitbekommen) verhindert werden können. Bei www.bild.de sieht das z.B. so aus:
Herrn Lummas Auffassung zu Facebook dürfte weiterhin der wissende Nutzer auch entgegen halten können, was spätestens seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Februar 2016 bekannt ist.
Facebook verknüpft die Registrierungsdaten der Nutzer des Facebook-Portals (Name, Vorname, Geschlecht, Geburtsdatum) mit den Daten der Seitenbesucher im Zusammenhang mit dem Besuch von Facebook-Fanpages (z.B. Fashion ID). Es geht also nicht um Teile von Zielgruppen, wie Herr Lumma den Bild-Lesern einzuschenken gedenkt, sondern um sehr gezielte persönliche Informationen, die auch über Schuhgrößen weit hinaus gehen.
Doch damit nicht genug. Mittlerweile hat sich die Facebook-Gemeinde offensichtlich so sehr an die tägliche Schnüffelei gewöhnt, dass es scheinbar keinerlei Hemmungen mehr gibt, selbst aktiv Daten zu liefern… und die Tools dafür werden auch gerne bereit gestellt. Nach der Apple-Health-App sollte mich eigentlich gar nichts mehr wundern, aber der folgende Screenshot hat bei mir doch mehr als ein *Kopfschütteln* ausgelöst.
Lieschen M. ist nur ein Pseudonym. Tatsächlich hat die hier betroffene Dame mit der App “rantastic” unter ihrem realen Namen ihren Facebookfreunden in Echtzeit ihren Laufstatus mitgeteilt. Ob sie weiß, was ich weiß? Oder nun auch Sie?
Nein, Paranoia ist keine Krankheit, sondern gesunder Menschenverstand…