Haben wir nicht, brauchen wir nicht, weg damit!

Wir leben in einem Land, das sich den Luxus leisten kann, keine klare Meinung zu der Frage zu haben, wer eigentlich als arm gilt. Man beachte schon bei dieser Formulierung den feinen Unterschied: Es geht nicht darum, wer arm ist, sondern wer als solches gilt. Wer nicht zu den Armen in diesem Land gehört, nach welcher Logik auch immer, der wird bei ehrlicher Betrachtung zugeben müssen, dass sein Heim voll von Krempel ist, der in hohem Maß entbehrlich ist. Längst geht es beim Einkauf nicht mehr um das Lebensnotwendige, sondern um die kleinen Freuden, die das Leben versüßen sollen. Bei Durst täte es zum Beispiel auch Leitungswasser. Das ist lecker, beinahe umsonst, uneingeschränkt gesund, und überhaupt erfüllt es den Zweck des Durst Löschens optimal. Aber der Keller ist voll mit Wein, und zwar nicht von der billigsten Sorte. Ein schwerer Roter oder ein spritziger Weißer zu einem guten Essen kann durch Wasser auch kaum adäquat ersetzt werden.

Den Menschen, die im Grunde schon alles haben, noch etwas zu verkaufen, ist nicht einfach. Insofern könnte ich fast Mitleid bekommen mit der Werbebranche, der diese Aufgabe zufällt. Andererseits lasse ich den Gedanken schnell fallen, wenn mich wieder einmal eine ihrer – pardon – dämlichen Botschaften einfach nur fassungslos macht. Da wirbt zum Beispiel aktuell ein Autobauer damit, dass das Entertainmentsystem in seinen rollenden Blechbüchsen extra einen „Bitte nicht stören!“-Knopf hat, mit dem man ein Handy ausschalten kann. Mag sein, dass sich manche Leute ein Auto kaufen müssen, um ihr Handy mal auszuschalten. Ich schaffe das zum Glück auch so jeden Feierabend.

Die Welt ist voll mit Dingen, die eigentlich kein Mensch braucht. Das gilt zum Beispiel auch für mein Smartphone. Es hat lange gedauert und intensiver Überzeugungsversuche lieber Kollegen bedurft, bis ich mich dazu hinreißen ließ, mir so ein Teil zuzulegen. Nun bin ich als Informatiker durchaus in der Lage, mit dem Ding irgendwie fertig zu werden, und trotz meines längst nicht mehr jugendlichen Alters würde ich heftig widersprechen, unterstellte man mir Technikfeindlichkeit. Im Gegenteil, mich begeistert die Technik ungemein. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Schulstunde in der Oberprima, Leistungskurs Mathe, als unser Lehrer die Lektion „Multiplizieren mit dem Logarithmenstab“ unterbrach und uns seinen ersten Taschenrechner zeigte. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Das Teil wurde rumgereicht und wie eine Reliquie ehrfürchtig bestaunt. Es konnte nicht mehr als die vier Grundrechenarten, war klobig, schwer und richtig teuer, nach heutigem Wert so um die 300 Euro. Aber, hey, was war das für eine Sensation. Fortan verbrachte ich viele Stunden im Kaufhof und spielte mit diesen Wundermaschinen herum, bis ich mir endlich selbst eine leisten konnte, was ich objektiv als Schüler gar nicht konnte. Gebraucht habe ich sie nicht, schon weil ich noch das Rechnen mit Papier und Bleistift, ja sogar im Kopf beherrsche. Und mal ehrlich: Wie oft muss man eigentlich multiplizieren, jedenfalls Zahlen mit mehr als einer Ziffer?

Heute wiege ich mit dem Smartphone quasi ein Rechenzentrum in meiner Hand. Ich finde es faszinierend, und es bringt mich zum Staunen. Aber brauchen tue ich es genauso viel oder wenig wie einst den Taschenrechner. Ich habe es lange mit einem ganz normalen Telefon ausgehalten, und das hatte weder finanzielle noch weltanschauliche Gründe. Unter jüngeren Leuten ist gerade Texten die angesagte Methode, sich kurzzuschließen, im Wesentlichen, indem man sich mit dem Austausch von Banalitäten die Zeit stiehlt. Das wirkt auf mich „old fashioned guy“ übrigens ungewollt komisch, weil ich da an Lochstreifen und Fernschreiber denken muss. Für mich ist Reden nach wie vor die wichtigste aller Kommunikationsformen, am besten von Angesicht zu Angesicht. Aber ein Telefon tut es auch. Und mein altes Telefon – wer sagt eigentlich noch „Telefon“? – konnte mir diese elementare Funktion eine Woche lang mit einer Akkuladung bieten. Die größten Katastrophen heutzutage sind schließlich „Akku leer“ und „Kein Empfang“. Seit einiger Zeit habe ich also ein Smartphone und dazu wer weiß wie viele Apps für alle möglichen und unmöglichen Lebenslagen. Wenn ich wissen wollte, wie das Wetter ist, habe ich früher aus dem Fenster gesehen. Damals. Was war ich uninformiert. Ich hatte einfach keine Ahnung von der Niederschlagswahrscheinlichkeit in Zentral-Lampukistan. Wie konnte ich so leben?

Wozu den Weg zu einem Kunden oder ins Hotel planen oder die Abfahrtszeit des Zuges nachsehen, ehe man aufbricht? Das kann man ja noch unterwegs erledigen. Und wenn der Navigator mir dann erzählt, wieviel Verspätung mein Zug wieder hat, ist das Frieren im Regen umso schöner, und ich kann wenigstens gezielt schlecht gelaunt sein. Ach, Moment, wo wollte ich eigentlich hin? Kalender, hilf! Okay, ich habe mal wieder vergessen, ein Zimmer zu buchen. Kein Problem. Welches Portal besorgt mir diesmal ein Bett für heute Nacht? Mir fehlt allerdings noch die App für das Kofferpacken, aber das wird sicher auch irgendwann ein Problem von gestern sein, weil mein Hotelportal dann Pyjama und Zahnbürste direkt ans Bett liefern wird. Eines Tages dann werden endlich Surrogates Realität sein und ich kann ganz zu Hause bleiben. Witzig ist es freilich, in dem Zusammenhang noch von Realität zu reden.

Hat außer mir noch jemand das Gefühl, dass all die vielen Helferlein im Grunde nur zu Desorganisation, die als Spontanität getarnt ist, führen und zu einer immer größeren Abhängigkeit von obskuren Diensten verleiten? Heute gilt mehr denn je zuvor: Je mehr Information, desto größer die Verwirrung. Willst du jemanden fertig machen, überschütte ihn mit Information. Oder stiehl ihm seine.

Ein Familienmitglied hatte sich dieser Tage ein neues Smartphone zugelegt und bat um Hilfe bei der Inbetriebnahme. Schon beim Anlegen der Telefonkontakte gab es erste Probleme. Der Apparat verweigerte diese Arbeit mit dem Hinweis, dass eine Anmeldung bei Google nicht möglich sei. Moment! Wieso Google? Ich will einen Namen und eine Telefonnummer speichern und die Blechbüchse will das Google petzen. Echt jetzt? Geht’s noch? Es folgte eine intensive Problemanalyse, man hat ja sonst nichts zu tun, immerhin mit Ergebnis. Beim Einrichten des Apparats – oh ja, so etwas beschränkt sich bei mir nicht auf das Aufladen des Akkus – hatte ich, soweit mir das ein nicht gerootetes Android erlaubte, den ganzen vorinstallierten Müll rausgeworfen und stattdessen die Apps meiner Wahl aufgespielt. Das geht nun mal nur über Google Play und also nicht ohne Google-Account. Das Anlegen desselben hatte den Apparat leider offenbar ermutigt, fürderhin intensiv mit der Google-Cloud zu plaudern, zum Beispiel die Kontakte nicht bzw. nicht nur lokal auf der SIM-Card oder der SD-Karte zu speichern, sondern auch bei Google. Aufgefallen war das nur, weil der Vertrag mit dem Telefon-Provider kein Internet beinhaltete und im bewussten Moment auch kein WLAN aktiv war, weshalb oben erwähnte Fehlermeldung erschien. Ja, es gibt die Möglichkeit, den Upload zu unterbinden, und ein ausgebildeter Informatiker findet auch nach zehn Minuten Sucherei, nein, eigentlich nach ziellosem Herumklicken, den Menüpunkt, der zumindest verspricht, dass die Synchronisation in Zukunft nicht mehr erfolgt. Andererseits wiederholt sich der ganze Ärger trotz der vorgenommen Einstellungen jedes Mal nach Reaktivieren des Google-Account zwecks Download einer App, und beim Deaktivieren werden, quasi zur Strafe, alle angelegten Telefonkontakte und wer weiß was noch gelöscht. Ist das nicht toll? „Privacy by Default“ nennen die Schöpfer der neuen europäischen Datenschutzgrundverordnung die Idee, dass IT-Systeme im Grundzustand datenschutzmäßig sauber sind. Smartphones sind davon noch weiter entfernt als mein Lieblingsfußballverein vom Gewinn der Champions League. Die gute Nachricht ist: Wenigstens bei meinem Verein geht es im Moment in die richtige Richtung.

Es gibt etliche Funktionen auf dem Gerät, die mir nicht geheuer sind, aber sich nicht ohne weiteres bzw. gar nicht abstellen lassen, zum Beispiel die Google-Suche inklusive der Sprachsteuerung und überhaupt der ganze Google-Assistant-Kram. Ich will es mal so sagen: Ich möchte nicht, dass ein Gerät mich belauscht, schon gar nicht, wenn ich nicht sicher sein kann, dass nicht noch jemand mithört. Die Erfahrung mit den Kontaktdaten hat mich diesbezüglich nicht eben beruhigt. Es würde mich nicht wundern, dass, wenn ich morgens mal in der Nähe meines Handys huste, mittags der Lieferservice einer Internetapotheke ungefragt Schleimlöser vorbeibringt, natürlich eine Sorte, deren Geschmacksnote zu meinen sonstigen Essensgewohnheiten passt. Die Rechnung wird per Zugriff auf meine Kreditkarte beglichen, das längst auf Google-Dollar läuft. Abends teilt mir dann meine Krankenversicherung mit, dass aufgrund des erhöhten Risikos für chronisches Asthma meine Beiträge steigen werden, und zwar rückwirkend. Und ich kann dann nur noch zusehen und achselzuckend denken: Wie schön. Aber wenigstens Google kümmert sich um mich. Dann schlucke ich brav die Medizin, weil ich sie nun mal habe, obwohl ich sie gar nicht brauche, und denke, während die enthaltenen Beruhigungssubstanzen ein wohliges Gefühl erzeugen, darüber nach, wann Google endlich lernt, eine Erkältung von einem verschluckten Brötchenkrümel zu unterscheiden.

Welche Geister, die man dann nie mehr los wird, holt man sich eigentlich ins Haus, wenn man sich mit dieser Technik einlässt? Es ist nicht gewagt, davon auszugehen, dass nur eine Minderheit der Smartphone-User in der Lage ist, ihr Gerät halbwegs zu kontrollieren, und noch weniger wollen das überhaupt. Die Hauptsache ist, es funktioniert immer und überall. Umso mehr fürchte ich, dass das im Anmarsch befindliche Internet of Things, die alles umfassende Vernetzung aller Dinge, durch die Strom fließt, nichts anderes ist als ein moderner faustischer Pakt. Nvidia und Google haben voller Stolz auf der Hightechmesse CES ein System vorgestellt, bei dem überall im Haus Mikrofone darauf warten, Befehle entgegenzunehmen, um dann so wichtige Dinge zu erledigen wie die Musiklautstärke zu regeln. Damit das perfekt geht, muss die exakte Position des Sprechers bekannt sein. Dazu bauen die Mikrofone so eine Art lokales GPS auf und erkennen aufgrund der minimalen Zeitverzögerung beim Empfang der Signale genau, ob man zum Beispiel gerade in der Küche speist oder auf der Toilette das Gegenteil tut. Na ja, das erkennt man an charakteristischen Geräuschen wohl auch so. Nvidia liefert die Hardware, Google mit seinem Assistant die Applikation, was bedeutet, dass alle diese Informationen mal eben bei Google vorbeigehen. Google weiß also in Zukunft ziemlich genau, wieviel Zeit jemand, sagen wir mal, im Schlafzimmer verbringt und was da so vor sich geht. Oder könnte es wissen. Oder weiß es eh schon, woher auch immer. Weiß man’s?

Was ich sehr genau weiß: Niemand braucht so was. Ausnahmen mögen, wie immer, die Regel bestätigen. Es ist nett, zugegeben, ein Gadget halt für Leute, die sonst schon das meiste haben, der Typ Mensch, der einmal im Jahr fast einen (oft geborgten) Tausender für das neueste I-Phone hinlegt, einfach so, jedenfalls nicht, weil das alte nicht mehr funktioniert. Es ist auch irgendwie futuristisch und macht dich cool (sagt man das noch?), und als ich so etwas zum ersten Mal in Hollywood-Streifen gesehen habe, als Blick in die Zukunft, war es aufregend. Mir fallen Filme wie „Back to the Future 2“ und „Total Recall“ ein. Befehl des Protagonisten beim Betreten seiner Wohnung an eben diese: “Palmenstrand auf die Tapete!” Oder so ähnlich. Aber ich bin sehr wohl noch in der Lage, meine Musikanlage mit einer gewöhnlichen Fernbedienung zu steuern, und wenn es sein muss, komme ich auch noch von meiner Couch runter und bis zum Gerät selber, ohne mir dabei etwas zu vergeben. Ich weiß nicht, welchen Vorteil es hätte, Rollläden oder Thermostate per SmartHome-App aus dem Urlaub zu steuern statt mit einer Zeitschaltuhr. In der Spätantike des ausgehenden 20. Jahrhunderts hätte man eventuell einfach nette Nachbarn um Hilfe gefragt. An deren Stelle sind jedoch Liker, Friends und Followers getreten, und die sind auf alle Fälle hierzu vollständig unbrauchbar. Wobei: Auch das gilt eigentlich immer.

Ist ja überhaupt alles smart heute, außer mir vermutlich. Denn mein Kühlschrank sollte mal auf die Idee kommen, an meiner statt über den Einkauf zu entscheiden. Der wäre am nächsten Tag beim Schrotthändler, und seine Künstliche Intelligenz könnte dort über die Ungerechtigkeit des Lebens sinnieren. Vor allem aber lege ich keinen, aber auch gar keinen Wert auf die Gesellschaft von Google & Co. in meinem Heim. Und also bin ich mal aktiv retro und halte es mit einem Paragraphen aus dem Grundgesetz meiner rheinischen Heimat: Hammer nit, bruche mer nit, fott domet (Haben wir nicht, brauchen wir nicht, weg damit).