Die “öffentliche Privatsphäre”

1993 war ich das erste Mal im Internet. 386er PC, 200 MB Festplatte, 4 MB Arbeitsspeicher und ein internes 9.6er Faxmodem. Damals kannte ich die Textzeilen der autoexec.bat, config.sys, system.ini und win.ini von Windows 3.1 auswendig und konnte durchaus von mir sagen, dass ich weiß, wie ein Betriebssystem funktioniert. Ich saß in meiner Studentenbude und hatte mir einen CompuServe-Account zugelegt. Es war aufregend, dem Impulswahlverfahren über den internen Lautsprecher des PC zu lauschen …und ich war auch schon damals paranoid. Meine Vorstellungen, was nun passieren wird, gingen durchaus in die Richtung, dass ich mit dieser physikalischen Verbindung Dinge auf meinem PC zulasse, die ich nicht kontrollieren kann. Es gab keine Firewallsysteme und auch keine Virenscanner, tatsächlich hat damals noch niemand über so etwas nachgedacht. Und ich hatte den Finger auf dem Hauptschalter, um zu vermeiden, dass ich mir den Teufel auf den Rechner hole.

Naiv werden jetzt manche sagen, die auf eine erfolgreiche Hackerkarriere zurückblicken können. Aber immerhin hatte ich nie ein Problem mit meinen Systemen und Onlinebanking betreibe ich auch schon seit damals.
Heute gehe ich gelassener mit diesen Dingen um, auch wenn ich nicht mehr kontrollieren kann, was geschieht, u.a. weil die Systeme viel komplexer und subversiver sind. Ich habe gelernt, dass Vieles mit eigenem Verhalten zu tun hat, mit technischem Verständnis, Risikobereitschaft und vor allen Dingen mit Zwang, der durch die Gesellschaft ausgeübt wird. Zwang, der getrieben wird durch Interessensvertreter, die Informationen über mich haben wollen, die ich nicht bereit bin, zu teilen. Zwang, dem man sich auch durchaus widersetzen kann. Hierzu gehört vor allem zu verstehen, dass nichts kostenlos ist, vor allem dann nicht, wenn die Anbieter im Netz das so darstellen.

Man nennt mich old-fashioned, weil ich keinen WhatsApp-Account habe, kein Instagram, keinen Messenger und auch kein Facebook für die tägliche Kommunikation nutze, keine privaten Informationen auf öffentlichen Plattformen hinterlasse und immer noch eigene Mailserver für meine Erreich- und Verfügbarkeit nutze. Aber ich lebe gut damit und ich kann nicht sagen, dass mir irgendetwas fehlt. Ganz im Gegenteil.
Denn “kostenlose” Systeme haben eins gemeinsam. Sie greifen Daten ab, um mich zu profilieren, zu kategorisieren, zu analysieren. Die dazu notwendigen Funktionen sind heute so geschickt gestaltet, dass die, die mich auszuspionieren gedenken, bekommen, was sie wollen, ohne dass ich dagegen irgendetwas machen kann.
Außer, dass ich mich dem entziehe und meine digitale Seele damit einsam und alleine ist. Das ist das “OB”. Die anderen – und ich schätze, dass sind mehr als 90 % aller Nutzer von Internet, Smartphones, sozialen Netzwerken, öffentlichen Plattformen und letztlich auch der Cloud – stellen sich die Frage des “OB” überhaupt nicht und das “WIE” ist so komplex, dass man es einfach zusammen fassen kann: Es findet nicht statt, weil es zu kompliziert ist und zu viel Arbeit macht.

Ich behaupte, das ist so gewollt. Denn wenn mehr Leute verstehen würden, was hinter den Kulissen abläuft, würde es weitaus weniger Nutzer geben, die ihre Privatsphäre für einen Lolli verkaufen, oder das schon längst getan haben.
Menschen werden bevormundet, getäuscht, für dumm verkauft, an der Nase herumgeführt und mit leeren Versprechungen sowie technischen Tricks dazu gebracht, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie ihnen von den Verantwortlichen vorgegaukelt werden. Ob dies nun staatliche Interessensvertreter sind oder die Privatwirtschaft macht dabei keinen Unterschied, weil die Zusammenarbeit beider Gruppierungen schon seit Jahrzehnten praktiziert wird. Die älteren Jahrgänge werden sich z.B. vielleicht noch an die erste Windows 95 – Version erinnern, bei der die Entwickler vergessen hatten, vor Veröffentlichung einer Beta-Version eine Datei namens nsakey.dll umzubennen. Damals hat sich die Weltpresse noch nicht für die NSA interessiert und in den USA selbst war die Rede von “No-Such-Agency”. Deshalb wurde dieser NSA-Key nur in der Fachpresse diskutiert. Das ist nun 20 Jahre her und die Systeme werden seitdem immer komplexer und vor allem perfider. Alleine das ist Grund genug zu sagen, dass immer mehr Nutzer die Gegebenheiten aus Unwissenheit und Überforderung akzeptieren.

Eine heute ansatzweise stattfindende Diskussion dreht sich deshalb schon nicht mehr um die grundsätzliche Frage der Privatsphäre. Unabhängig des vieldiskutierten “Ich-habe-nichts-zu-verbergen” werden neuerdings Begriffe wie “öffentliche Privatsphäre” geprägt. Als Jurist verstehe ich darunter zunächst etwas, was sich gegensätzlich ausschließt. Was privat ist, kann nicht öffentlich sein, und was einmal öffentlich wurde, wird niemals wieder privat werden.

Aber ich versuche auch, der Entwicklung zu folgen, zu verstehen, wohin die Reise geht, beobachte die Entwicklung und auch mich selbst. Bspw. wäre ich Mitte der Neunziger mit meinem ersten Mobiltelefon niemals auf die Idee gekommen, meine Nummer zu übermitteln. Das “OB” der Übermittlung meiner eigenen Nummer stelle ich heute dagegen aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Frage. Und ich überlege mehrfach, ob ich ein Gespräch eines anonymen Anrufers annehme. Hat da jemand etwas zu verbergen?
So stelle auch ich Veränderungen an meinem Verhalten fest, jedoch nicht ohne die Gründe dafür zu überdenken. Und das ist der entscheidende Punkt. Man muss sich die Zeit nehmen, über Entwicklungen nachzudenken, Risiken abzuwägen und Entwicklungen zu verstehen. Das vielzitierte Beispiel eines Internetführerscheins könnte auch hier wieder herhalten. Im Gegensatz zum Straßenverkehr wird von niemandem eine Erlaubnis erwartet, sich online mit einem Computer sicher verhalten zu können. Weil der potentielle Schaden vermeintlich geringer ist, als wenn jemand einen Unfall mit einem Auto baut. Aber der mögliche wirtschaftliche Schaden in Unternehmen oder die Verletzung der Privatsphäre Einzelner kann dennoch beträchtlich sein, wenn Nutzer nicht wissen, wie ein System funktioniert.
Und damit kommen wir zum “WIE”. Wie Menschen mit modernen IT-Systemen umgehen, entscheiden nicht die Nutzer selbst, sondern die Anbieter. Sie zweifeln? Dann haben Sie eine Bedienungsanleitung in der Verpackung eines Iphones gefunden. Und dann wissen Sie auch, wie man bei Facebook Einstellungen zur Privatsphäre vornimmt und Sie haben die AGB zu iTunes gelesen. Damit meine ich jetzt nicht den Scrollvorgang, um “zuzustimmen”… Kurzum: Wer nicht weiß, wie ein System funktioniert, dem wird durch die Anbieter erschwert, private Daten aus den Anwendungsebenen heraus zu halten.

Der Spiegel berichtet unter Verweis auf eine Website in den USA unter dem Titel “Oh crap, my parents joined Facebook”, über Kinder, deren Eltern sich bei Facebook anmelden und als Freunde ihrer Kinder Zugriff auf deren digitales Leben haben. Zugegeben, auch ich finde es trotz datenschutzrechtlicher Brisanz witzig, wenn eine Mutter aufgrund ihrer Unkenntnis des Systems Facebook und dessen Reichweite nicht mittels privater Nachricht, sondern auf der öffentlichen Timeline der Tochter die Frage postet, ob diese noch Fußpilzcreme aus der Apotheke braucht. Dies ist selbst in einer Zeit peinlich, in der stolze werdende Eltern Ultraschallphotos ihrer Ungeborenen veröffentlichen.

Die Frage, die sich stellt, ist, wie damit umgegangen wird. Das Verständnis der Facebookgeneration, der Generation Y und jünger, geht nicht in die Richtung, dass ein System, welches die Privatsphäre gefährdet, grundsätzlich in Frage zu stellen ist, sondern stellt auf Optionen ab, wie der Kreis derer, die Informationen verarbeiten können, eingeschränkt werden kann. Am Beispiel der Mutter, die nach Fußpilzcreme fragt, heißt das, dass die Tochter ihre liebe Mama in den “Ignoriermodus” gestellt hat. Und das nennt sich dann “öffentliche Privatsphäre”. Aber diese Ebene bezieht sich nur auf Anwender, wie Mutter und Tochter. Facebook als Betreiber steht bei dieser Betrachtung außen vor.
Deutlich macht dies auch, was der Artikel im Spiegel nicht hergibt. Nämlich die Frage, ob die Tochter trotz des Ignorierens der Online-Präsenz der Mutter Werbung für Fußpilzbehandlungen bekommt. Denn die Mutter wird von Facebook nicht ignoriert. Der Betreiber eines social networks dürfte sich über eine Mutter, die keine Ahnung von Technik hat und ihre Fürsorge über alles andere stellt, ein Loch in den Bauch freuen.

Ich für meinen Teil hatte schon Mitleid mit den Kindern, die in jungen Jahren von ihren Eltern mit Mobiltelefonen ausgestattet werden, um unter Kontrolle zu sein. Was nun passiert, kann man schlichtweg als Weiterentwicklung betrachten, die das “OB” überhaupt nicht mehr in Frage stellt. Vielleicht ist es meine Freiheit, die ich als Jugendlicher hatte, weil es keine Mobiltelefone gab, die mich diese Fragen stellen lässt, und vielleicht muss man mit Windows 3.1 groß geworden sein, um die Technikentwicklung und deren Potentiale verstehen zu können.

Auf jeden Fall ist ein wenig Abstand zu den Dingen ein guter Ansatz, den Überblick nicht zu verlieren. Und das ist etwas, was jeder für sich selbst entscheiden muss. Vor allen Dingen, wenn es um die Privatsphäre anderer geht, die man riskiert, wenn man keine Ahnung hat.