Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt

Kurt Tucholsky schrieb einst über einen Pfarrer, der zu einem im Sterben liegenden Versicherungsmakler kam. Letzterer zeichnete sich sein Leben lang dadurch aus, ein schlechtes Schaf der Kirche gewesen zu sein. Nach seinem Gespräch mit dem Pfarrer starb der Makler, ungläubig, wie er gelebt hatte. Aber der Pfarrer ging versichert von dannen.
Wenn wir über Versicherungen reden, müssen wir ein wenig weiter ausholen, um zu verstehen, um wie viel teuflischer dieses Gewerbe heute ist, und noch mehr zu werden droht, als es bereits ist. Wenn es dazu nicht schon zu spät ist.

Kürzlich hatte ich mit einem Kunden ein Gespräch über die Unternehmen der Virgin – Gruppe in Südafrika. Eines dieser Unternehmen heißt Virgin Active und ist eine der größeren Fitnessstudio-Ketten in der südlichen Hemisphäre. Ein anderes Unternehmen der Virgin-Gruppe heißt Discovery, und hierbei handelt es sich um eine Versicherungsgesellschaft, u.a. für private Krankenversicherungen.
Sie werden jetzt fragen, wo der Zusammenhang ist. Nun, zunächst reden wir hier über eine Unternehmensgruppe, deren Datenverarbeitung zentralisiert ist. D.h., die Kundendaten der Virgin Discovery stehen auch der Virgin Active zur Verfügung und umgekehrt. Und weil Sir Richard Branson, Ballonfahrer, gescheiterter Weltraumtourist und Eigner der Virgin Gruppe, ein schlauer Kopf ist, bietet Virgin Active ein Paket für Discovery Kunden an. Der gewöhnliche Kunde bei Virgin Active zahlt 740 südafrikanische Rand Mitgliedsbeitrag im Monat. Dem bei Discovery Privatversicherten können aber demgegenüber in Abhängigkeit vom Einkommen die Möglichkeiten der täglichen Leibesertüchtigung für 140 Rand zur Verfügung stehen. Unter der Bedingung, dass der Kunde sich bereit erklärt, seine Vitalwerte an den im Fitnessstudio bereitstehenden Maschinen regelmäßig auslesen zu lassen. Tolle Sache, diese Maschinen, mit Anschluss an das Internet, so dass man seine Werte über ein Webinterface sogar selbst von überall auf dem Planeten abrufen kann.
Den Nutzern von Apple-Health werden Informationen wie Herzfrequenz, Blutdruck, Körperfettanteil und Gewicht bekannt vorkommen. Und der geübte Leser dieses Blogs ahnt es schon: Wehe dem, der nach einem durchzechten Wochenende Montags morgens auf dem Display des Laufbands die Aufforderung bekommt, dass seine Vitalwerte zur Bestätigung der Discovery Sonderkonditionen aktuell zu übermitteln sind. Discovery weiß ja schon aufgrund der Mitgliederkarte, die am Eingang ausgelesen wurde, und der Verwendung des eigenen Fitnessprofils auf dem Laufband (man will ja schließlich seine Verbesserungen erfahren), dass man gerade versucht, die lange Nacht von Freitag bis Montag zu kompensieren…
Dumm gelaufen, wenn der Blutdruck gerade wegen des Alkohols vom Wochenende am Anschlag ist, Discovery die Daten online übermittelt bekommt und daraufhin die Konditionen für die Krankenversicherung zum Negativen für den Kunden geändert werden.

Beängstigend? Dann sind Sie einfach zu beeindrucken. Es geht nämlich noch weiter. Discovery kombiniert die Vitalwerte der Kunden mit den Daten aus Kundenbindungssystemen oder „consumer loyalty cards“. Dazu braucht man schließlich nur eine Schnittstelle zu den Kartendaten des Kunden. So werden die Vitalwerte des Kunden um Kaufverhalten im Supermarkt ergänzt. Weißbrot oder Vollkorn, rotes oder weißes Fleisch, Gemüse oder Schokoriegel. Von Alkohol und Zigaretten ist da noch gar nicht die Rede. Alles im Sinne des Kunden, um ihn von seinem Unvermögen zu befreien, sich gesund zu ernähren und zu verhalten. Das hat natürlich überhaupt nichts mit Profitoptimierung der Versicherungsgesellschaften zu tun, denn Versicherer sind alle Philanthropen. Oder etwa doch nicht?

Die Prämien für die private Krankenversicherung variieren zwischen denen für Kunden, die am Programm teilnehmen und den Widerspenstigen, die keine Daten an den Konzern übermitteln. Wie praktisch für Virgin, dass sowohl Versicherung als auch Fitnessstudio zur Kette gehören. Virgin heißt Versicherungen für das Auto, das Leben, die Gesundheit… alles aus einer Hand. Mit Trackingsystemen auch für das Auto und Sonderkonditionen für jene, die sich an die Regeln von Virgin halten. Fahr nicht zu schnell, trink nicht so viel, rauche nicht, ernähr dich gesund und gehe regelmäßig in die Muckibude. Und Virgin ist immer dabei. Welch eine Freude für jene, die ein paar Cent sparen wollen und dafür nur ihre Privatsphäre als auch die Verantwortung für sich selbst an Virgin abgeben müssen.

Das geht aber nur, solange man gesund ist, und sich konform verhält. … Wer krank wird, oder einfach nur älter, wer einen Unfall mit dem Auto hat, weil er sich nicht an die Regeln hält, hat mit dieser Konstruktion genug Daten an die Gesellschaft übermittelt, dass diese ein höheres Versicherungsrisiko begründen und die Prämien erhöhen kann. Man stelle sich vor, dass man eine Woche vor dem selbstverschuldeten Autounfall eine Herzrythmusstörung auf dem Laufband hatte, aus welchen Gründen auch immer. Alkohol, Zigaretten, zuviel Süßholz (auch bekannt als Lakritz), Pizza, Pasta oder Schweinefleisch, genetische Disposition, der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Virgin analysiert die Daten, stellt fest, dass der Kunde sich nicht an die Regeln gehalten hat … und verweigert den Schadensausgleich. Ich würde jetzt die Frage stellen, wozu man eine Versicherung braucht, wenn das allgemeine Lebensrisiko durch Verhaltensvorgaben der Versicherung so weit reduziert wird, dass es faktisch nicht mehr existent ist, bzw. nur noch höhere Gewalt als Schadensfall durch die Versicherung ausgeglichen würde. Wenn höhere Gewalt nicht durch die Versicherungsvertragsbedingungen ausgeschlossen wäre.

Damit müsste man darüber nachdenken, wozu man eine Versicherung braucht. Etwa als Leitfaden für die eigene Lebensgestaltung? Man zahlt also seine Prämien nicht für die Absicherung allgemeiner Lebensrisiken, sondern für die Vorgabe eines Verhaltensmusters unter ständiger Kontrolle, ob dieses auch eingehalten wird. Und weil wir ja alle per Gesetz als mündige Bürger verstanden werden, sind wir uns auch im Klaren darüber, dass die Versicherung nicht zahlen muss, wenn wir den Verhaltensvorgaben nicht entsprechen.
Ich denke, man sollte dem Verbraucher erklären, dass Versicherungen nicht mehr das sind, was sie einst waren. Heute geht es nur noch darum, den Verbraucher unter Ausschöpfung insbesondere aller technologischen Möglichkeiten zu entmündigen, so weit wie möglich zu melken und das eigene Risiko gegen Null zu reduzieren.

Sie werden jetzt sagen, das ist ja erst morgen oder übermorgen. Und wer denkt schon darüber nach, welche Risiken aus persönlichen Daten, die man gegenwärtig für ein paar Cent der Versicherung zur Verfügung stellt, in der Zukunft entstehen können. Und was hat Südafrika mit Europa zu tun?
Ich verrate Ihnen etwas. Sir Richard Branson und die Generali-Gruppe haben bereits zur elektronischen Kontrolle von Fitness, Lebensstil und Ernährung der Generali-Kunden eine Kooperation begründet. Das langjährig in Südafrika erprobte, sogenannte Telemonitoring von Discovery wird nun bei Generali dazu verwendet, Kunden mit Gutscheinen, Geschenken und Rabatten zu belohnen, wenn sie sich nur gesund verhalten. Das funktioniert mithilfe einer App, die Vorsorgetermine dokumentiert, Schritte zählt oder sportliche Aktivitäten misst. Bei der Generali heißt es dazu: „Wir beeinflussen das Verhalten unserer Kunden, und gesündere Kunden sind besser für uns.“ Ein Schelm wer Böses dabei denkt, dass es hier nicht um Gesundheitsvorsorge für die Generali-Kundschaft geht, sondern um Profit. Oder soll man eine solche Bemerkung anders verstehen?

Gesunde Kunden zahlen Beiträge und kosten die Versicherung im Zweifel nur die Verwaltung derselben. Dazu muss man aber wissen, welcher Kunde gesund ist, und wer die Gesellschaft Geld kosten könnte, weil er womöglich aufgrund seiner genetischen Disposition oder seines Lebenswandels Krebs oder andere üble, kostenträchtige Krankheiten bekommen könnte. Um die Akzeptanz der Kunden für die hierfür notwendige Kommerzialisierung von Gesundheitsdaten zu fördern, wird das Ganze mit einem finanziellen Vorteil für den Kunden versehen. In Afrika recht einfach, weil die Öffentlichkeit kaum sensibel im Umgang mit personenbezogenen Daten ist. Im Gegensatz zu Afrika gibt es in Europa aber Gesetze, die den Verbraucher vor solchen Geschäftsmodellen schützen. Darüber hinaus ist der Einzelne eher geneigt, seine Rechte zu hinterfragen. Also muss eine fundierte Einwilligung des Versicherten in die Ausschlachtung der eigenen Gesundheitsdaten eingeholt werden.
Wie geht das? Richtig, PR, Public Relations. Ein Euphemismus, der beschreibt, wie man Fakalien als Schokolade verkauft. Und das, weil beides die gleiche Farbe hat. Hier geht es um ein übles Geschäftsmodell, das nur dem Profit der Versicherung dient. Als Paket geschnürt wird dem Kunden vorgetäuscht, finanziell einen Vorteil zu haben. Dieser Vorteil ist aber nur temporär. Denn persönliche Informationen kann man nur einmal verkaufen. Die Prämie für die Krankenversicherung ist aber variabel, insbesondere, wenn Verträge über Jahre laufen. Der Deal ist ganz einfach. Solange der Kunde seine Privatspähre offenbart, indem er Daten an die Versicherung liefert, bekommt er Sonderkonditionen. Tritt der Schadenfall ein, etwa, weil der Kunde krank wird, greift der Deal zweiter Teil. Die Versicherung benutzt die Daten aus der Vergangenheit, um die Prämie zu erhöhen. Will der Kunde den Vertrag rückgängig machen, stehen seine Einwilligung und seine Vorteile aus der Vergangenheit dem entgegen. Und was die Datenkrake Versicherung einmal hat, gibt sie auch nicht wieder her.
Damit dürfte klar werden, dass temporäre finanzielle Vorteile für Krankenversicherte weitreichende Folgen haben. Die Älteren unter uns, die vor Jahrzehnten eine private Versicherung abgeschlossen haben, wissen ein Lied davon zu singen. Inoffiziellen Quellen zu Folge sind ein paar Hunderttausend Selbständige in Deutschland nicht (mehr) krankenversichert, weil sie sich die Prämien nicht mehr leisten können. Und das schon ohne Telemonitoring von Discovery.
Telemonitoring bietet enorme Vorteile für Versicherungen. Aber nur für diese. Kunden, die kosten, werden schon aufgrund von Vergleichswerten höher eingestuft, egal, ob die Risikobewertung zutrifft, oder nicht. Je mehr Daten der Versicherungskonzern hat, desto zuverlässiger die Risikobewertung des Kunden.
Generali verschafft sich mit diesem System einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, weil alle die, die aufgrund einer schlechten Risikogruppierung nicht in den Genuss der günstigen Tarife kommen, sich eine andere Versicherung suchen werden, solange bis diese ebenfalls mit Telemonitoring arbeitet. Was bleibt, ist eine Spaltung der Gesellschaft in die, die den Idealen einer profitablen Versicherungswirtschaft entsprechen, und jenen, die sich mit Krankheiten herumschlagen müssen.
Es bleibt Ihnen überlassen, zu welcher Gruppe Sie sich zählen. Denn letztlich sind es die Kunden, die ein solches System ermöglichen. Ohne Daten, kein Monitoring. Ohne Monitoring, keine Kommerzialisierung von Gesundheitsdaten.

Die Realität sieht heute leider anders aus. Und damit komme ich zu meinem Kunden, den ich eingangs erwähnt habe. Seiner Meinung nach wird die Mehrheit sich dem System fügen, wie immer. Und die vielleicht verbleibenden 5 % Hartnäckigen, die sich des Risikos bewusst sind, werden von der Mehrheit verschluckt. Einfach dadurch, dass jene, die sich weigern, ihre Daten zu verkaufen, durch die Masse gezwungen werden, das System zu akzeptieren. Und sei es nur dadurch, dass die Tarife für Verweigerer so hoch werden, dass es keine Alternativen mehr gibt. Alternativlosigkeit ist dann auch hier angesagt…

Hans Magnus Enzensberger hat hierzu geschrieben, dass der Schlaf der Vernunft bis zu dem Tag anhalten wird, an dem eine Mehrheit der Einwohner unseres Landes am eigenen Leib erfährt, was ihnen widerfahren ist. Vielleicht werden sie sich dann die Augen reiben und fragen, warum sie die Zeit, zu der Gegenwehr noch möglich gewesen wäre, verschlafen haben.
Mit anderen Worten: Die Mehrheit scheint aus Schafen, Stimmvieh und Whatsapp-Nutzern zu bestehen, die komfortable, vorgekaute Lebenspläne akzeptieren, ohne darüber nachzudenken. Aber eben diese Masse bestimmt leider auch die Geschicke von Minderheiten, die nicht blind sind. Bedauerlich, wenn auch demokratisch. Wir haben es selbst aber immer noch in der Hand, wie wir uns verhalten. Wem 5 % Widerständler nicht genug sind, der sollte sich wehren. Denn wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.